Christian Kupke
[Journal für Philosophie & Psychiatrie, Jg. 1 (2008), Ausgabe 1]
Zusammenfassung
Die Rezeption der 'Allgemeinen Psychopathologie' von Karl Jaspers orientiert sich im Allgemeinen am Dualismus von Verstehen und Erklären. Der vorliegende Text, der anlässlich eines am 11.7.2008 gehaltenen Vortrags während der Jaspers-Tage in Oldenburg entstand, zeigt zunächst, dass dies ein von Jaspers selbst nicht ausreichend zurückgewiesenes Missverständnis ist: Statt einer zweigliedrigen, am Unterschied von Subjektivität und Objektivität, Verstehen und Erklären orientierten Logik, folgt die 'Allgemeine Psychopathologie' in ihrem Kern einer dreigliedrigen Logik. Sie kennt nicht nur das Seelische als das Verständliche, für das die Psychologie zuständig ist, und das Somatische als das Unverständliche, aber Erklärliche, für das die Biologie zuständig ist, sondern auch das Geistig-Transzendente (z.B. die Freiheit) als das ebenso Unverständliche, aber auch Unerklärliche, für das die Philosophie zuständig ist. Berücksichtigt man diese entscheidende Modifikation im systematischen Aufbau der Jasper'schen Psychopathologie seit der vierten Auflage der 'Allgemeinen Psychopathologie' 1942/46, stellt man jedoch bei Jaspers eine eigentümliche Inkonsequenz fest: Statt die Abwandlung des Wirklichkeitserlebens im Wahn zum Thema auch der philosophischen Existenzerhellung zu machen, trennt Jaspers die Philosophie von der Psychopathologie und behauptet, dass der Wahn letzten Endes immer eine somatische Ursache habe, d.h. erklärlich sei. Der Wahn ist für Jaspers, den Philosophen, erstaunlicherweise kein philosophisches, sondern vor allem ein psychiatrisches und noch dazu physio- oder sogar pathologisches Thema. Die Implikationen und Folgen dieser doch etwas überraschenden Sichtweise werden im Text genauer beleuchtet und einer eingehenden Kritik unterzogen.
Schlüsselwörter: Wahn, Verstehen, Erklären, Jaspers-Theorem, Freiheit, Subjektivität, Intersubjektivität
Abstract
What is unintelligible with delusions? A philosophic-critical investigation of Jaspers' theorem of unintelligibily
What is unintelligible with delusion? In Jaspers' 'General Psychopathology' we become aware of a threefold distinction: First there is all that is intelligible: psychic development (the matter of psychology); second all that is unintelligible but explainable: somatic processes (the matter of biology); and third all that is unintelligible and unexplainable: spiritual phenomena, for instance freedom (the matter of philosophy). Since delusion in Jaspers' view is unintelligible but explainable - it traces back to somatic processes - it is for him, surprisingly, not a matter of philosophy. The following text deals with the paradoxes and consequences of such a view.
Key words: Delusion, Understanding, Explanation, Freedom, Subjectivity, Intersubjectivity
Einleitung
Was ist so unverständlich am Wahn? – Wenn man diese Frage stellt, wird man zunächst wissen wollen, wonach eigentlich gefragt wird. Man wird wissen wollen, erstens was mit Unverständlichkeit, zweitens was mit Wahn gemeint ist und drittens wie beides miteinander zusammenhängt. Die Beantwortung der ersten Frage, nach der Unverständlichkeit, ist eine philosophische Aufgabe (sie wird in Teil I thematisiert), die der zweiten Frage, nach dem Wahn, eine psychiatrische Aufgabe (sie wird in Teil II thematisiert), und die der dritten Frage, nach ihrem Zusammenhang, eine gemeinsame philosophisch-psychiatrische Aufgabe (sie wird in Teil III thematisiert).
Es ist allgemein bekannt, dass Karl Jaspers sowohl Psychiater als auch Philosoph war. Zwar verstand er sich zu dem Zeitpunkt, als er die 'Allgemeine Psychopathologie' verfasste, noch nicht als Philosoph – er war Assistent an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik unter Franz Nissl (und arbeitete dort u.a. mit Gruhle, Mayer-Gross und Ranke zusammen) –, aber, wie sogleich noch deutlich werden wird, war das philosophische Interesse an der Psychopathologie bei Jaspers schon zu jener Zeit sehr ausgeprägt.
Außerdem sollte man immer im Auge behalten, dass Karl Jaspers von der ersten Auflage 1913 an bis 1942 regelmäßige Neuauflagen (insgesamt vier) seiner 'Allgemeinen Psychopathologie' verfasst hat – mit zum Teil erheblichen Änderungen. So spricht er z.B. im Vorwort zur vierten Auflage 1942 von einer "völlige[n] Neugestaltung" des Buches (S. V). Fast dreißig Jahre lang hat sich Jaspers also intensiv mit der Psychopathologie auseinandergesetzt; und sie stand auch zu der Zeit noch im Fokus seines Interesses, als er sich z.B. mit seinem existenzphilosophischen, dreibändigen Hauptwerk "Philosophie" (von 1932) längst einen philosophischen Namen gemacht hatte.
"das absolut Unverständliche, durch Hirnvorgänge Verursachte (...)" (Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie)
I. Jaspers Theorie der Unverständlichkeit
I.1.
Was ist so unverständlich am Wahn? – Das ist die Frage, die ich mir – der ich selbst als Philosoph und nicht als Psychiater arbeite – vorgelegt habe. Was heißt hier 'Unverständlichkeit'? Sicherlich ist es angebracht, dabei zunächst an die von Dilthey geprägte und von Jaspers in die 'Allgemeine Psychopathologie' übernommene Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen zu erinnern und die Frage umzuformulieren: Heißt 'Unverständlichkeit' auch 'Unerklärlichkeit'? Ist also das Unverständliche auch das Unerklärliche? Oder ist es gerade das Erklärliche?
Bei einer oberflächlichen Lektüre von Jaspers' 'Allgemeiner Psychopathologie' könnte man zunächst, von Dilthey herkommend, zu der Meinung gelangen, dass das, was unerklärlich sei, durchaus noch verständlich gemacht werden könne, aber dass das, was unverständlich sei, auch nicht erklärt werden könne. Kurz, man ist bei einer solchen Lektüre geneigt, von einer Hierarchie im Verhältnis von Verstehen und Erklären auszugehen, in der das Verstehen die ursprünglichere und primäre und das Erklären zwar nicht die aus dem Verstehen abgeleitete, aber doch sekundäre Herangehensweise ist.
Gegenüber dieser ersten, oberflächlichen Lektüre zeigt sich jedoch schnell ein anderes Bild. Im methodologisch wichtigen zweiten Teil der 'Allgemeinen Psychopathologie' mit dem Titel 'Die verständlichen Zusammenhänge des Seelenlebens' kann man zum Verhältnis von Verstehen und Erklären etwa Folgendes lesen: "Ersteres [das Verstehen, C.K.] ist das subjektive evidente Erfassen der seelischen Zusammenhänge von innen, soweit sie auf diese Weise erfaßbar sind, letzteres [das Erklären, C.K.] das objektive Aufzeigen von Zusammenhängen, Folgen, Regelmäßigkeiten, die unverständlich und nur kausal erklärbar sind." (S. 255)
I.2.
Unverständlich am Wahn ist also das an ihm, was "nur kausal erklärbar" ist. Es ist das, was wir als spezifischen somatischen Vorgang (z.B. als "Hirnvorgang"; vgl. S. 458) dem Wahn zugrundelegen müssen, damit uns verständlich, nein, erklärlich ist, wie es überhaupt zu jener irritierenden Abwandlung des Realitätserlebens kommen konnte, die uns im Wahn entgegen tritt. Und deshalb ist es gerade umgekehrt als man, von Dilthey herkommend, über die Jasper'sche Psychopathologie denken könnte: Nicht das Verstehen ist das ursprünglichere und primäre, nicht das Verstehen übergreift das Erklären, so dass auch das Unerklärliche noch verstanden werden könnte, sondern das Erklären übergreift das Verstehen, so dass auch das Unverständliche noch erklärt werden kann.
"Der naheliegende Gedanke", schreibt Jaspers, "das Pychische sei das Gebiet des Verstehens, das Physische das Gebiet des kausalen Erklärens, ist falsch. Es gibt keinen realen Vorgang, sei er physischer oder psychischer Natur, der nicht im Prinzip kausaler Erklärung zugänglich wäre, auch die psychischen Vorgänge können kausaler Erklärung unterworfen werden. Das kausale Erklären findet nirgends seine Grenze. Überall fragen wir auch bei seelischen Vorgängen nach Ursachen und Wirkungen. Das Verstehen dagegen findet überall seine Grenzen." (S. 253)
So findet es seine Grenze z.B. am Wahn. Das dürfte alle diejenigen freuen, die, mit Blick v.a. auf die empirischen Daten neurobiologischer Provenienz, heute der Kausalität eine bestimmende, wenn nicht sogar die bestimmende Rolle in der Genese psychischer Erkrankungen zuweisen würden. Keinesfalls ist Jaspers der Vertreter einer Psychopathologie, die von dieser fordert, jeden nur möglichen psychischen Vorgang auch zu verstehen. Im Gegenteil, in der Jasper'schen Psychopathologie waltet eine Art ironischer Dialektik, die man vielleicht folgendermaßen umschreiben kann: Die Psychopathologie habe sich auf das Verstehen zu konzentrieren, um sich, im Falle des Unverständlichen, desto deutlicher für das Erklären auszusprechen. Denn, so Jaspers, "man hat vieles für verständlich erklärt, was es gar nicht ist" (S. 340).
I.3.
Wenn man sich der Frage nach dem Verständnis von Unverständlichkeit in Jaspers 'Allgemeiner Psychopathologie' vom bekannten Unterschied zwischen Erklären und Verstehen her zu nähern versucht, erlebt man allerdings noch eine zweite, nicht weniger bedeutsame Überraschung. Man könnte nämlich meinen, das gesamte Werk orientiere sich genau an diesem Unterschied, – derart, dass es zunächst die subjektiven Erscheinungen von den objektiven Symptomen des kranken Seelenlebens trennt, jene der Phänomenologie und diese der objektiven Psychopathologie zuschreibt, sodann die verständlichen und die kausalen Zusammenhänge des Seelenlebens unterscheidet, die ersten den Methoden der verstehenden, die zweiten denen der erklärenden Psychopathologie zuordnet usw. usf. (vgl. Saner, 1970, S. 75).
Aber auch das ist ein Irrtum. Statt einer zweigliedrigen, am Unterschied von Subjektivität und Objektivität, Erkären und Verstehen orientierten Logik, folgt die 'Allgemeine Psychopathologie' in ihrem Kern einer dreigliedrigen Logik, die die zweigliedrige, binäre Logik um einen entscheidenden, allererst philosophischen Aspekt erweitert. Denn für Jaspers ist das Verstehen nicht nur zur Seite des Somatischen, des "Außerbewußten", wie er sagt, begrenzt, sondern auch zur Seite dessen, was er das "Unbedingte der Existenz" nennt: "Im Verstehen der Zusammenhänge", schreibt er, "stoßen wir an die Grenzen des Unverständlichen. Dieses Unverständliche ist nach der einen Seite (...) das Außerbewußte, das als Leib uns trägt, in seinen Kausalzuammenhängen hinzunehmen, als Material zu gestalten, als Daseinsmöglickeit zu ergreifen, als Ausfall zu erleiden ist. Nach der anderen Seite ist das Unverständliche als der Ursprung des Verstehbaren mehr als verstehbar, ist das sich-erhellende, verstehbar Werdende, wenn es aus dem Unbedingten der Existenz ergriffen wird." (S. 256)
Auch dieses "Unbedingte der Existenz", nicht nur das "Außerbewußte des Leibes" ist unverständlich. Und es ist zunächst noch in einem ganz anderen Sinn unverständlich als in dem von Jaspers gemeinten Sinn. Denn man versteht als Leser im ersten Moment noch nicht so recht, worauf Jaspers mit seinen Bemerkungen hinauswill. Was ist hier mit dem "Ursprung des Verstehbaren", das "mehr als verstehbar" sein soll, gemeint? Und wie hängt es mit dem – für die Darstellung offenbar entscheidenden – "Unbedingten der Existenz" zusammen? Unvermittelt wird hier der Leser mit jener Dimension der 'Allgemeinen Psychopathologie' konfrontiert, von der schon eingangs als dem philosophischen Interesse Jaspers gesprochen wurde und die, wenn ich nicht irre, den vielfältigen Überarbeitungen des Werkes vor allem Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre geschuldet sein dürfte.
I.4.
Es sollte bis jetzt deutlich geworden sein, dass es zwei Seiten des Unverständlichen gibt, das "Außerbewußte des Leibes" und das "Unbedingte der Existenz". Aber undeutlich ist noch, was es mit dieser zweiten Seite auf sich hat, und vor allem, was sie möglicherweise mit der Unverständlichkeit des Wahns zu tun hat. Da sich dieser Zusammenhang erst erörtern lässt, wenn der Wahn im Mittelpunkt der Analyse steht, möchte ich zunächst noch kurz einen Blick auf die Systematik werfen und dabei zu klären versuchen, was es mit dem "Unbedingten der Existenz" auf sich hat.
Dieses Unbedingte lässt sich nur erläutern mit Blick auf einen Grundsatz der Philosophie Jaspers', der, soweit ich sehe, nicht in der 'Allgemeinen Psychopathologie', sondern in dem 1932 erstmals veröffentlichten Hauptwerk mit dem schlichten Titel 'Philosophie' entwickelt worden ist. Er lautet in aller Kürze, ohne dass ich hier auf nähere Fragen und Probleme, die mit ihm in Zusammenhang stehen mögen, eingehen könnte: Der Mensch ist in seiner Existenz in dem Sinne unbedingt, dass er jedes zu vergegenständlichende, wissbare oder erforschbare – wir können jetzt auch sagen erklärbare – Sein zu transzendieren vermag: auf ein anderes Sein hin, ein Anderssein, das sein eigentliches Sein ist (vgl. Jaspers, 1932, S. 19ff & S. 36ff).
Dieses unerklärliche Sein, das Jaspers auch gelegentlich 'Transzendenz', 'Freiheit' oder 'Geist' nennt (vgl. S. 256, S. 359f, S. 634, S. 637f passim), stellt also den zweiten Bereich des Unverständlichen dar, so dass sich jetzt das folgende systematische Bild ergibt: Auf der einen Seite ist der Bereich des Seelischen, der der Gegenstandsbereich der verstehenden Psychopathologie ist, vom Bereich des Leiblichen begrenzt, der der Gegenstandsbereich der erklärenden Psychopathologie ist. Und auf der anderen Seite ist der Bereich des Seelischen vom Bereich des Geistigen, des Unbedingten der Existenz begrenzt, der, wie Jaspers sagt, in die Zuständigkeit der "philosophischen Existenzerhellung" fällt (S. 256; vgl. S. 637ff). Kraft dieser zwei Begrenzungen des Verstehbaren zerfällt daher das Unverständliche selbst wiederum in zwei Formen: nämlich in das Erklärliche und das Unerklärliche.
"Wir verwundern uns vor der Tatsache der Psychosen. Es sind Rätsel des Menschseins selber." (Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie)
II. Jaspers' Theorie des Wahns
II.1.
Was also ist so unverständlich am Wahn? Ist er, als unverständlicher, erklärlich und unerklärlich zugleich? Erklärlich, insofern er somatische Gründe hat? Und unerklärlich, insofern er an das Unbedingte unserer Existenz rührt? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich dem Wahn selbst zuwenden und erlebt nun auch hier zunächst eine Überraschung. Denn der Wahn macht auf eine weitere Dimension des Unverständlichen aufmerksam, auf eine Dimension, die gewissermaßen nur vom Wahn selbst her einsichtig, nur aus ihm ableitbar ist: auf die des Realitäts- bzw. Wirklichkeitserlebens.
"Der Wahn ist" nämlich, so Jaspers, "ein Urphänomen" (S. 78), das heißt, er stellt eine bestimmte, abgewandelte oder gestörte Form der Beziehung von Ich- und Gegenstandsbewusstsein dar (vgl. S. 49), wobei die Art, wie Ich- und Gegenstandsbewusstsein miteinander verbunden sind, das Wirklichkeitserleben ausmacht und formt. Jaspers erläutert: "Was das Wirklichkeitserleben ist, ist weder abzuleiten, noch in eine Reihe mit anderen verwandten Phänomenen zu stellen, sondern als ursprüngliches Phänomen nur indirekt zu umschreiben. Gerade dadurch, daß es pathologisch gestört sein kann, wird die Aufmerksamkeit wach, es in seinem Wesen zu bemerken." (S. 79)
Wie man seine Wirklichkeit erlebt, was wirklich ist und was nicht, kann man, so Jaspers, nicht begründen und in diesem Sinne ableiten, da alles, mit dem man es begründen bzw. aus dem man es ableiten könnte, ja selbst zur Wirklichkeit gehören würde. Also ist die Wirklichkeit als solche und das Erleben von ihr unerklärlich. Und insofern gehört sie – so müsste man zumindest aus der soeben vorgestellten Systematik folgern – auf die Seite jenes Unverständlichen, das der philosophischen Existenzerhellung vorbehalten bleibt. Ist dann aber nicht auch der Wahn, der ja in einer plötzlichen Verwandlung und Abwandlung dieses Wirklichkeitserlebens besteht, Gegenstand der philosophischen Existenzerhellung? Das heißt, ist die verstehende Psychopathologie, insofern sie sich dem Wahn als einem "Urphänomen" zuwendet, nicht zugleich Teil der Philosophie?
II.2.
Ich möchte, bevor ich an die Beantwortung dieser Frage gehe, die über Jaspers hinaus führt, zunächst die Folgerungen für das Unverständlichkeitstheorem betrachten, die Jaspers aus der Abwandlung des Wirklichkeitserlebens beim Wahnkranken zieht. Wie bekannt sein dürfte, entwickelt Jaspers aus der Analyse dieser Abwandlung seine drei berühmten Wahnkriterien: erstens die unvergleichliche subjektive Gewißheit, zweitens die Unkorrigierbarkeit und drittens die Unmöglichkeit des Inhalts (vgl. S. 80). Da das Kriterium der unvergleichlichen subjektiven Gewissheit eng mit dem der Unkorrigierbarkeit zusammenhängt (zumindest aus der Perspektive des Unverständlichkeitstheorems), möchte ich zunächst auf die Unmöglichkeit im Inhalt und sodann auf die Unkorrigierbarkeit in der Form zu sprechen kommen.
Die Unmöglichkeit im Inhalt lässt sich, wenn man Jaspers nicht zu eng auslegt, als in einer doppelten Unverständlichkeit gegründet fassen: der der statisch und der genetisch unverständlichen phänomenologischen Elemente des Wahns. Als statisch Unverständliches bezeichnet Jaspers den bekannten Eindruck des "Gemachten", von dem fast alle Wahnkranken berichten. Dem Gesunden ist dieser Eindruck deshalb unverständlich, weil wir, wie Jaspers ausführt, "eigentlich gar nicht imstande (sind), Seelisches anders als mit dem Ichbewußtsein begleitet anschaulich zu sehen. Nur negativ und durch Vergleiche können wir jenes im ganzen Wesen veränderte Seelenleben uns vor Augen stellen, in dem 'gemachtes' Seelisches eine Rolle spielt." (S. 484) Wir können uns also in diese Art des Wirklichkeitserlebens nicht "anschaulich einfühlen", wie Jaspers sagt; und darin besteht ihre Unverständlichkeit.
Die Unverständlichkeit der genetisch unverständlichen phänomenologischen Elemente des Wahns bezieht sich dagegen weniger auf das Wirklichkeitserleben als auf den Wirklichkeitsvollzug des Wahnkranken, so wie er sich in Teilen von dessen Lebensführung, seinem Benehmen und Gebaren zeigt: "Warum ein Kranker mitten in der Nacht anfängt zu singen, warum er einen Selbstmordversuch macht, warum er plötzlich gegen seine Angehörigen so böse wurde, warum die Tatsache, daß ein Schlüssel auf dem Tisch lag, ihn so außerordentlich aufregte usw.: das findet der Kranke selbst das Natürlichste von der Welt, kann es uns aber nicht verständlich machen." (S. 486) Die Unverständlichkeit besteht also hier nicht so sehr darin, sich in den Kranken nicht anschaulich einfühlen, sondern vielmehr darin, seine Handlungen nicht anschaulich nachvollziehen zu können.
II.3.
Was schließlich im Unterschied zur Unmöglichkeit des Inhalts und der mit ihr einhergehenden Unverständlichkeit die Unkorrigierbarkeit des Wahns anbelangt, so hat diese Jaspers zufolge ihren Grund in einer fundamentalen, im Bereich des Seelischen selbst nicht mehr verständlichen Veränderung der Persönlichkeit: "Der echte Wahn", schreibt Jaspers, "ist unkorrigierbar infolge einer Veränderung der Persönlichkeit, deren Wesen wir bisher durchaus nicht beschreiben, geschweige denn begrifflich formulieren können, die wir aber voraussetzen müssen." Und einige Zeilen später heißt es: "Man kann nicht sagen, seine gesamte Welt [die des Wahnkranken, C.K.] sei verwandelt (...) Aber sie ist insofern verwandelt, als in ihr oder sie umfassend ein verwandeltes Realitätswissen herrscht derart, daß eine Korrektur doch wie ein Zusammenbruch des Seins selbst, wie es als Daseinsbewußtsein des Kranken wirklich ist, anmuten müßte. Der Mensch kann nicht glauben, was sein Dasein selber aufheben würde. Aber solche Formeln wollen schon wieder verständlich machen, was unverständlich ist: die spezifisch schizophrene Unkorrigierbarkeit." (S. 88)
Ich kann an dieser Stelle leider nicht auf die fast schon paradox anmutende Selbstkorrektur Jaspers' eingehen ("Aber solche Formeln wollen schon wieder verständlich machen, was unverständlich ist.") und frage stattdessen: Was bedingt nach Jaspers diese eigentümliche Veränderung der Persönlichkeit, und worauf beruht ihre Unverständlichkeit? Sie beruht, wie Jaspers an anderer Stelle deutlich macht, in der Unterbrechung der einheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit, "weil im biologischen Geschehen zu bestimmter Zeit ein Prozeß eingesetzt hat, der mit der Unterbrechung des biologischen Lebenslaufes das Seelenleben unumkehrbar, unheilbar verändert (...)". Und er ergänzt: "Biographische Kriterien des Prozesses sind: das Auftreten des Neuen in einer zeitlich lokalisierbaren kurzen Spanne, die Begleitung mannigfacher bekannter Symptome in dieser Zeit, der Mangel einer auslösenden Ursache oder eines zureichend begründenden Erlebnisses." (S. 590)
Der Wahn ist also für Jaspers letztendlich deshalb unverständlich, weil er in einem den "biologischen Lebenslauf des Seelenlebens" (was auch immer das sein mag) unterbrechenden somatischen Prozess beruht. Und er beruht letzten Endes deshalb auf einem somatischen Prozess, weil im Seelischen selbst eine auslösende Ursache oder ein zureichend begründendes Erlebnis nicht auffindbar, kurz weil er unverständlich ist. Die von mir weiter oben bereits angedeutete These, die Psychopathologie habe sich auf das Verstehen zu konzentrieren, um sich, im Falle des Unverständlichen, desto deutlicher für das Erklären auszusprechen, findet hier also noch einmal ihre explizite Bestätigung: Der Wahn ist für Jaspers unverständlich, weil er somatische Gründe hat; und er hat für ihn somatische Gründe, weil er unverständlich ist.
II.4.
Bedeutet das aber nicht, dass für Jaspers der Wahn als solcher unverständlich ist und dass die Frage 'Was ist so unverständlich am Wahn?' noch zu schwach formuliert war? Müsste sie nicht vielmehr lauten: 'Warum oder inwiefern ist der Wahn überhaupt und im Ganzen unverständlich?' In der Tat ist für Jaspers am Wahn so gut wie alles unverständlich. Er ist für ihn das Paradigma des Unverständlichen.
Das lässt sich besonders gut zeigen an der Art, wie Jaspers in der 'Allgemeinen Psychopathologie' an mehreren Stellen (etwa S. 80, S. 89 u. S. 340f) zwischen den von ihm so genannten 'wahnhaften Ideen' und den 'echten Wahnideen' unterscheidet. Während nämlich die wahnhaften Ideen noch verstanden werden können, sind die echten Wahnideen mit rein psychologischen Mitteln nicht mehr zu begreifen, also unverständlich: "Die einen sind für uns verständlich hervorgegangen aus Affekten, aus erschütternden, kränkenden, das Schuldgefühl erweckenden und anderen Erlebnissen, aus Trugwahrnehmungen oder dem Erlebnis der Entfremdung der Wahrnehmungswelt bei verändertem Bewußtsein usw., die anderen sind für uns psychologisch nicht weiter zurückzuverfolgen, sind phänomenologisch etwas Letztes." (S. 80)
Dass sie "phänomenologisch etwas Letztes" sind, heißt aber, dass sie unverständlich sind. Denn in ihnen bzw. im "Urphänomen" des Wahns macht sich – ich habe bereits weiter oben darauf hingewiesen – eine Verwandlung jenes Wirklichkeitserlebens geltend, das jedem Erklären und jedem Verstehen schon vorausliegt und das insofern die Grundlage für jeden Erklärens- und Verstehensakt selbst abgibt. Wenn daher Jaspers die Ursache der Verwandlung des Wirklichkeitserlebens zwar für unverständlich, aber, wie gezeigt, für erklärlich hält, insofern er ihm eine somatische Ursache zuschreibt, stellt er zwei – ich meine, durchaus nicht selbstverständliche – Thesen auf, die eng miteinander zusammenhängen: Er behauptet erstens (wenn auch nur implizit), dass unser Wirklichkeitserleben biologische Gründe hat, biologisch verursacht ist, und zweitens, dass, weil das so ist, die Abwandlung des Wirklichkeitserlebens beim Wahnkranken kein primär philosophisches Thema darstellt.
"Aber entscheidend für den weiteren Weg meines Denkens war, daß ich begann, gestützt auf den Satz des Aristoteles 'Die Seele ist gleichsam alles' mit gutem Gewissen unter dem Namen der Psychologie mich mit allem zu beschäftigen, was man wissen kann." (Karl Jaspers, Philosophische Autobiographie)
III. Die Grenzen des Jasper'schen Theorems
III.1.
Ich werde nun zum Schluss diese beiden Thesen noch zum Gegenstand einiger prinzipieller Überlegungen machen, die, wie ich meine, über Jaspers hinausführen, und zwar einerseits zu einer Konzeption, die unabhängig von der Frage nach der möglicherweise somatischen Verursachung des Wahns nicht die prinzipielle Verständlichkeit von Wahnphänomenen in Frage stellt (ich denke hierbei etwa an Conrads gestaltanalytischen Ansatz), und andererseits zu einer Konzeption, die das zentrale Problem des Wahns nicht oder nicht vorrangig mit dem Verlust an Verständlichkeit, sondern mit dem an Selbstverständlichkeit und - nicht minder entscheidend - an Verständigung assoziiert (wie etwa in Blankenburgs dialektischem Ansatz).
Dabei möchte ich zunächst auf den Widerspruch hinweisen, in den Jaspers sich verfängt bzw. den er nicht weiter reflektiert, wenn er das Wirklichkeitserleben zwar als ein nicht ableitbares ursprüngliches Phänomen bezeichnet, aber dann doch die Veränderung des Wirklichkeitserlebens des Wahnkranken auf einen somatischen Prozess zurückführt. Gegen diesen Vorwurf kann man natürlich einwenden, Jaspers meine in diesem, wie auch in allen anderen Fällen, in denen er von Unableitbarkeit spreche, nur die psychische bzw. psychologische, nicht aber die somatische bzw. biologische Unableitbarkeit.
Aber ist das ein überzeugendes Argument? Ich glaube nicht; zumindest nicht für den Fall des Wirklichkeitserlebens als solchem. Denn dieses Wirklichkeitserleben muss offenbar auch noch unserer kausalen Erklärung von Wirklichkeit zugrundeliegen, insofern es ja immer etwas Wirkliches ist, das kausal erklärt werden soll. Das heißt, wenn Jaspers unser Wirklichkeitserleben, in dessen Kontext kausale Erklärung überhaupt erst möglich ist, selbst kausal begründet, dann setzt er sich einem doppelten Vorwurf aus: Ihm kann erstens vorgeworfen werden, dieses (gesunde) Wirklichkeitserleben, trotz der es relativierenden Wahnerfahrung, zu verabsolutieren. Und ihm kann zweitens vorgeworfen werden, dass er es eben damit seiner eigenen Begrifflichkeit nach nicht nur für etwas Unverständliches, sondern auch für etwas Unerklärliches halten müsste.
III.2.
Damit in engem Zusammenhang steht eine zweite Inkonsistenz, ein zweiter Widerspruch im Ansatz von Jaspers. Jaspers hatte als die Domäne der Philosophie ausdrücklich jenes Unverständliche bestimmt, das zugleich das Unerklärliche ist. Indem er aber, widersprüchlicherweise, unser jeweiliges, z.B. krankhaft abgewandeltes Wirklichkeitserleben nicht für unerklärlich, sondern für erklärlich deklariert, umgeht er den gerade für seinen eigenen Ansatz naheliegenden Gedanken einer inneren Verwandtschaft von Psychopathologie und Philosophie bzw. den einer konstitutiven Angewiesenheit der Psychopathologie auf die Philosophie.
Ausdrücklich weist er darauf hin, daß "der philosophische Begriff der Existenz (...) in gegenständlicher psychopathologischer Forschung unanwendbar (ist). Er verliert in solcher Anwendung sogleich seinen eigentlichen und tiefen Sinn. Daseinsverwandlung ist nicht Existenzverwandlung. Die Verwandlung des ganzen Menschen und seiner Welt durch biologisches Geschehen im Knick eines Lebenslaufes und die Verwandlung durch den unbedingten Entschluß der Existenz sind heterogen. Beides liegt nicht auf derselben Ebene. Das Letztere gibt es gar nicht für eine psychopathologische Erkenntnis. Der Einbruch in die Persönlichkeit in einem Prozeß macht Verrücktheit, aber nicht existentielle Unbedingtheit." (S. 592)
Ganz offensichtlich rekurriert hier Jaspers auf das, was im eigentlichen Sinne das Unbedingte der Existenz ist: auf Freiheit. Und er argumentiert: Da die Verwandlung der Persönlichkeit im krankmachenden Prozess ein "biologisches Geschehen", also ein heteronomer Vorgang sei, lägen autonome Existenz und heteronomes Dasein "nicht auf derselben Ebene". Aber ist das überzeugend? Ist es nicht stets dasselbe Subjekt, das sich einmal frei entscheidet und ein anderes Mal dem krankmachenden biologischen Geschehen unterworfen ist? Liegen also Freiheit und Unfreiheit nicht doch auf derselben Ebene? Und wie ist Freiheit überhaupt möglich, wenn das eigene Dasein von einem Tag auf den anderen durch ein biologisches Geschehen verwandelt werden kann, auf das man nicht den geringsten Einfluss hat? Und was bedeutet es, dass hier Freiheit geradezu mit Gesundheit und Unfreiheit mit Krankheit gleichgesetzt wird? Auf alle diese Fragen (zu den mit ihnen angesprochenen Problemkreis vgl. Kupke, 2007) findet man bei Jaspers keine weiteren Antworten mehr und muss sich deshalb anders orientieren.
III.3.
Eine der möglichen Antworten auf den erstgenannten Widerspruch im Text von Jaspers könnte sein, auf die generelle These der Unverständlichkeit des Wahns zu verzichten, so wie dies etwa Klaus Conrad in seinem Ende der 50er Jahre erstmals erschienenen, mittlerweile klassischen 'Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns' gefordert hat. So weist Conrad etwa auf die fatale Spaltung im Feld der Psychiatrie hin, die durch Jaspers' Theorem möglich wurde: nämlich darauf, das psychopathologische Problem einerseits in ein physiopathologisches und andererseits in ein hermeneutisches Problem zu verwandeln: "Man scheint also nur hirnphysiologisch erklären oder geisteswissenschaftlich interpretieren zu können, ein Drittes kennt Jaspers nicht" (Conrad, 1959, S. 18).
Es dürfte dem psychiatrisch geschulten Leser vertraut sein, dass Conrad selbst beanspruchte, mit seiner Gestaltanalyse auf dieses Dritte rekurrieren, d.h. den "ungeheure(n) Bereich subtiler Erlebnisbeschreibung und Erlebnisanalyse" (ebd., S. 20) abdecken zu können, der seiner Ansicht nach durch die Konzentration auf die Physiopathologie auf der einen und die Hermeneutik auf der anderen Seite vernachlässigt worden war. Ich kann diesen Anspruch hier leider nicht prüfen (dazu bedürfte es einer gesonderten Darstellung), sondern nur einige kritische Fragen an Jaspers stellen, die sich der Berücksichtigung dieses - m.E. von Conrad zurecht eingeklagten - Dritten verdanken: Warum etwa sollte nicht auch eine hirnphysiologisch zu erklärende Abwandlung des Wirlichkeitserlebens seelische Prozesse oder Zusammenhänge solcher Prozessen in Gang setzen, die als solche verständlich sind? Bedeutet eine somatische Verursachung notwendigerweise Unverständlichkeit? Und hat jede Unverständlichkeit im Seelischen notwendigerweise somatische Ursachen?
Wenn man so fragt, sieht man sofort, was an Jaspers' systematischer Konzeption – auch aus nicht-psychopathologischer Sicht – nicht ganz stimmig sein kann. Sie ist offenbar nicht dagegen gefeit, auch das gesunde Seelenleben für weitgehend unverständlich zu erklären. Denn wenn dieses Seelenleben durch biologische Prozesse erkranken, unverständlich werden kann, aber auch das gesunde Seelenleben notwendigerweise auf biologischen Prozessen beruht, dann muss Unverständlichkeit noch andere Gründe haben als die von Jaspers genannten. Und vor allem: Verständlichkeit und Unverständlichkeit, Gesundheit und Krankheit rücken dann sehr viel enger zusammen als es eigentlich von der Jasper'schen Konzeption her möglich sein dürfte.
III.4.
Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Verständlichkeit und Unverständlichkeit rücken derart eng zusammen, dass sie nur noch in sehr eingeschränktem Maße ein Kriterium für die Beurteilung der Gesundheit oder der Krankheit des Seelenlebens abgeben können. Wenn von 'Unverständlichkeit' die Rede sein könne, dann, so Blankenburg in seiner 1971 erstmals veröffentlichten Monographie, nicht im Sinne eines vollständigen Verlusts von Verständlichkeit, sondern v.a. im Sinne eines "Verlusts der natürlichen Selbstverständlichkeit" (vgl. Blankenburg, 1971).
Mit dieser These zog Blankenburg meines Erachtens die Konsequenz aus dem zweiten genannten Widerspruch in der Konzeption Jaspers'. Das Wirklichkeitserleben und dessen Verwandlung ist nämlich nicht nur, wie Jaspers widersprüchlicherweise behauptet, eine biologisch-naturwissenschaftliche, sondern auch eine zutiefst philosophische Frage. Und zwar deshalb, weil jede biologisch-naturwissenschaftliche Beurteilung unseres Wirklichkeitserlebens offenbar ihrerseits von einem als selbstverständlich zugrunde gelegten Wirklichkeitserleben dependiert, das sich gerade im Wahn als unselbstverständlich erweist (vgl. hierzu auch Heinze/Kupke, 2006, S. 348f).
Eben dann scheint aber der Grund für die Unverständlichkeit des wahnhaften Erlebens viel weniger ein objektives Faktum zu sein (wie Jaspers unterstellt), als vielmehr ein subjektives bzw. genauer ein intersubjektives Problem, nämlich das der Verständigung. Das macht Blankenburg in einem auch heute noch lesenswerten Beitrag deutlich, der sich direkt auf Jaspers bezieht (vgl. Blankenburg, 1984). Er erklärt dort, dass der Begriff der Verständlichkeit im psychiatrischen Kontext mehrdeutig sei und dass er nicht nur Interpretierbarkeit meine, sondern auch die Fähigkeit, sich intersubjektivitätsbezogen verständlich machen zu können. "Unverständlichkeit", so Blankenburg, "bedeutet dann nicht, daß eine Handlung oder eine Äußerung nicht irgendwie oder von irgendwoher verständlich gemacht werden kann, sondern daß derjenige, um den es geht, sich auf die anderen nicht mehr versteht und sich daher nicht mehr verständlich machen kann. 'Verrückt' meint also nicht, daß ein Verhalten nicht verstehbar sei, sondern nur, daß es nicht hinreichend intersubjektivitätsbezogen ist." (ebd., S. 455).
Schluss
Ich kann auf die für den Kenner der Entwicklung des philosophischen Denkens der letzten 50 Jahre sicherlich vorstellbaren Folgen, die die zuletzt zitierte Einsicht Blankenburgs für die heutige Psychiatrie haben könnte, leider nicht weiter eingehen. Vielmehr möchte ich zum Schluss des hier vorgelegten kleinen Problemaufrisses nur noch auf zwei, die Kritik an Jaspers einschränkende Punkte hinweisen: Zum einen hat Jaspers selbst Unverständlichkeit nie nur als ein objektives Faktum, sondern auch, wenn auch nur implizit, als intersubjektives Problem verstanden. Wenn er etwa erklärt, dass der Kranke sein Verhalten selbst durchaus für verständlich hält, "es uns aber nicht verständlich machen (kann)" (S. 486; vgl. das Zitat oben in Teil II.2), orientiert er sich durchaus auch an der von Blankenburg ins Zentrum gestellten Bedeutungsalternative von Unverständlichkeit. Allerdings hat er diese Bedeutungskomponente selber nie ausdrücklich hervorgehoben; und sie ist auch von der Jaspers-Forschung bisher nie so recht zur Kenntnis genommen worden.
Und zum zweiten: Einmal abgesehen davon, dass Blankenburg selbst, was die weiter oben schon kurz angesprochene Gleichsetzung von Freiheit mit Gesundheit und von Unfreiheit mit Krankheit anbelangt, von Jaspers' Systematik tiefer beeinflusst war als ihm lieb sein konnte (vgl. Kupke, 2007, S. 252ff); er hätte sich bei der Formulierung seiner These über den 'Verlust der natürlichen Seblbstverständlichkeit' durchaus auch auf Jaspers selbst berufen können. In genau demjenigen Teil seiner 'Allgemeinen Psychopathologie', in dem Jaspers den Wahn als ein Urphänomen einführt, heißt es z.B. einmal sehr deutlich - ganz im Sinne Blankenburgs: "Das uns jeden Augenblick Selbstverständliche pflegt auch das Rätselvollste zu sein: so die Zeit, das Ich, so auch die Wirklichkeit." (S. 78)
Im Wahnerleben wird dieses Selbstverständliche - die Zeit, das Ich, die Wirklichkeit - zum Unselbstverständlichen und kommt uns damit überhaupt erst als Rätselvolles zu Bewusstsein: als etwas, das wir gar nicht erklären, aber eben auch nicht verstehen können. Es ist die Philosophie, die dieses Bewusstsein des Grundes - des Rätsels des Lebens, des Unverständlichen ebenso wie des Unerklärlichen - aufnimmt und weiterträgt, während es in den Erklärungen der Naturwissenschaften oft nur eingemauert und verdrängt wird. In Erklärungen, die, wie Jaspers selber ahnte, entweder gar keine Erklärungen sind oder aber vergessen lassen, dass in allem, was wir erklären, ein Grund des Unerklärlichen bleibt, der allem menschlichen Handeln seine unüberwindbare Schranke setzt.
Literatur
Blankenburg, W. (1971). Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien. Stuttgart: Enke.
Blankenburg, W. (1984). Unausgeschöpftes in der Psychopathologie von Karl Jaspers. Der Nervenarzt, 55, 447-460 (auch in: J. Hersch et al. (Hrsg.). (1986). Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker. Symposium zum 100. Geburtstag in Basel und Heidelberg (S. 127-160). München: Piper).
Conrad, K. (1959/2002). Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns. Bonn: Edition Das Narrenschiff.
Heinze, M. & Kupke, C. (2006). Philosophie in der Psychiatrie. Der Nervenarzt, 77, 346-349.
Jaspers, K. (1913/46). Allgemeine Psychopathologie. Fünfte unveränderte Auflage (1948). Berlin/Heidelberg: Springer.
Jaspers, K. (1932/1956). Philosophie. Band I: Philosophische Weltorientierung. Berlin / Göttingen / Heidelberg: Springer.
Jaspers, K. (1957). Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe (1977). München: Piper.
Kupke, C. (2007). Subjekt und Individuum in philosophischer und psychiatrischer Perspektive. In: Th. Fuchs, K. Vogeley, M. Heinze (Hrsg.). Subjektivität und Gehirn (S. 241-260). Lengerich: Pabst Science Publishers / Berlin: Parodos (modifizierte Fassung e-Journal Philosophie der Psychologie <http://www.jp.philo.at/index8.htm>. [08.11.2008]).
Saner, H. (1970). Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg: Rowohlt.
Christian Kupke
Philosoph
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