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Sollten wir aufhören, von Freiheit zu sprechen?


Ingo-Wolf Kittel
[Journal für Philosophie & Psychiatrie, Jg. 2 (2009), Ausgabe 2]


"Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen." Wir haben keine Wahl, auch nicht bei Wahlen, schon gar keine Schuld, sondern "sind geprägt wie die Lorenz'schen Graugänse." Derartiges versichert in der Nachfolge von Burrhus F. Skinner seit Jahren der Neuro-Physiologe Wolf Singer. Er ist sich sicher: "Verschaltungen legen uns fest" - ihn selbst darauf, erst in einem Weltblatt und dann auch anderenorts nicht als eigene Schlussfolgerung, sondern als "Erkenntnis der Hirnforschung" auszugeben: "Keiner kann anders als er ist" - wenn er denn verschaltet ist, wie ein Elektrogerät es ist.

Mutig haben sich auch andere Neuro-Wissenschaftler aus dem Fenster gelehnt, visionär den Blick ins Land gerichtet und in ein grandioses Jahrtausend. Es hatte kaum begonnen, als etwa ein Neuro-Philosoph schaltete und in einem neu gegründeten "Magazin für Psychologie und Hirnforschung" zur Großprophylaxe der Öffentlichkeit schritt, sie hellsichtig "auf die brisanten Erkenntnisse der modernen Hirnforschung" vorzubereiten suchte und weit vorausschauend prophezeite:

"Die Hirnforschung verändert in dramatischer Weise unser Menschenbild und damit die Grundlage unserer Kultur, der Basis unserer ethischen wie politischen Entscheidungen."

Wer es zu lesen bekam, der fragte sich vielleicht, ob nach Marx, Haeckel und ihren Epigonen wieder einmal die Verkündigung einer "wissenschaftlichen Weltanschauung" drohe. Und der Fachmann wundert sich: Neuro-Physiologie als Ersatz für individuelles Selbstverstehen, persönliche Selbstbilder, Ich- und Selbstbewusstsein, Selbstmodelle in Psychiatrie und Psychologie oder gar für "Menschenbilder" in Anthropologie und Philosophie? 

Cerebrale Pseudopsychologie verschleiert in den Neurowissenschaften bisher, dass es sich exakt umgekehrt verhält, und Hirnforscher bei der Analyse cerebraler Vorgänge bei geistigen Leistungen auf valide psychologische Einzelkenntnisse sowie ein exaktes Wissen von psychischen Zusammenhängen angewiesen sind. Die Forschung wird durch Rhetorik hier mehr bestimmt als in durchgearbeiteter Theorie dargestellt mit dem bemerkenswerten Effekt, dass entsprechend den Wurzeln der dabei verwendeten umgangssprachlichen Begriffe Denkfiguren aus der Anfangszeit menschlichen Sinnierens und Phantasierens reaktiviert werden.

Neurowissenschaftler tun und reden nämlich so, als ob das Gehirn - real das zentrale Integrations-, Koordinations- und Regulationsorgan des Organismus, das wir auch noch zu anderem nutzen wie uns beispielsweise Erlebtes vorzustellen oder Absichten und Geplantes willentlich und zweckmäßig "in die Tat" umzusetzen - tatsächlich bewerkstelligt, was die meisten Menschen meinen, "selbst" zu tun. Stattdessen soll es als "reales Gehirn" seine eigene "Wirklichkeit" einschließlich eines "wirklichen Gehirns" sowie dem entsprechende Theorien "konstruieren" und Wissenschaftler als ihre "Konstrukte" gleich noch mit, sollen es Gehirne sogar sein und nicht bewusste Menschen, die fühlen, denken und entscheiden und uns wie ausführende Organe darauf dann wie erwähnt noch "festlegen".

Mittels durchsichtiger sprachlicher Kunststücke werden auf diese Weise Leistungen von uns isoliert einem unserer Organe und somit einem Teil von uns zugeschrieben ("mereologischer Fehlschluss") ohne Rücksicht darauf, dass wir diese Eigenleistungen bereits so lange schon uns selbst als Personen oder Individuen zurechnen, dass sich diese Denkweise auch in der gewöhnlichen Umgangssprache und in ihr enthaltenen Alltagspsychologie niedergeschlagen hat.

Die Folgen sind gravierend, wie Max R. Bennett und Peter M. S. Hacker in ihrem Lehrbuch "Philosophical Foundations of Neuroscience" in zahllosen Details aufgezeigt haben. Eine davon besteht in der "Wiederbelebung" oder Wiederauferstehung einer Denkfigur, die auf animistische Vorstellungen aus prähistorischer Zeit zurückgeht. Nach den Vorstellungen von Singer und Gleichgesinnten oder vielmehr Gleichverschalteten soll nämlich "das Gehirn" die Funktionen ausüben, die in der Vorstellungswelt eines René Descartes und ähnlich Denkender "der Geist" bewerkstelligte, abstraktes Pendant zu jenen Geistern, Ahnen und Dämonen, Teufeln, Engeln oder Göttern, denen sich Menschen vor Zeiten ausgesetzt wähnten.

Eine Verpsychologisierung des Gehirns wäre tatsächlich eine "dramatische" Veränderung heutigen Denkens. Nur ergäbe sich daraus "Kein neues Menschenbild", wie jüngst von dem Wissenschaftsphilosophen Peter Janich festgestellt wurde, ganz im Gegenteil: sachlich wäre sie ein geistiger Rückfall hinter unser modernes Selbstbild und alles, was eine ebenso moderne Psychologie und Psychiatrie auf seiner Grundlage bisher schon erreicht hat.

Denn völlig frei sind auch die Psychowissenschaften nicht von jener überkommenen Denkweise, neben neuronalen Vorgängen auch geistige Aktivitäten von uns zu verbildlichen, sie dabei zu eigenen Wesenheiten zu verdinglichen oder zu versachlichen und sie sich sodann als ihrerseits wirksame Agenten vorzustellen, die uns nach Art von Billardkugeln anstoßen und veranlassen zu tun, was wir real tun: "in der Tat" aus angeborener reflexhafter Bereitschaft oder eingeübter Gewohnheit, oder aber aus eigenem Entschluss und freien Stücken. 


Ingo-Wolf Kittel
Facharzt für Psychoth. Medizin
Philosophische und Psychotherapeutische Praxis
Frauentorstr. 49
86152 Augsburg
iw.kittel@gmx.de

Ingo-Wolf Kittel ist Facharzt für Psychiatrie mit philosophischer Vorbildung, arbeitet seit 1987 als niedergelassener Psychotherapeut und engagiert sich gerade als solcher weiterhin für die grundlegenden Belange der Seelenheilkunde.




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